EXPERTENRAT
Herausforderndes Verhalten
Der Begriff „Herausforderndes Verhalten“ bezieht sich im wahrsten Sinne darauf, dass Ihre Geduld als pflegender Angehöriger herausgefordert wird. Wie Sie damit umgehen können und was Ihnen die Situationen erleichtert, lesen Sie in diesem Beitrag! Beachten Sie dazu auch unser Kapitel → Mit Aggressionen umgehen
Bei Menschen mit einer demenziellen Erkrankung wird oft von „herausforderndem Verhalten“ gesprochen, wenn sich der Erkrankte „auffällig“ verhält und störendes oder sozial unangepasstes Verhalten zeigt. Das können bspw. sein:
In den allermeisten Fällen will der Demenzkranke aber keineswegs jemanden herausfordern, ärgern oder gar „böse“ sein. In der Regel weiß er auch nicht, dass er mit seinem Verhalten seinem Umfeld „den letzten Nerv raubt“.
Für die betreuenden Personen stellen diese Situationen eine enorme Herausforderung dar, weil der Erkrankte nicht durch rationale Erklärungen oder Argumente von seinem Verhalten abzubringen ist, und oft auch nicht in der Lage ist, sich verbal verständlich zu machen. Um derartige Situationen zu meistern, muss der Betreuende lernen, das Problem nicht persönlich zu nehmen, sondern es aus der Sicht des Erkrankten zu sehen und sich in dessen Lage zu versetzen. Ein dementer Mensch merkt, dass er immer verwirrter wird, nach und nach immer mehr verliert, sich immer weniger auskennt und seine Umgebung und die Menschen ihm immer fremder werden. Das macht ihn einerseits wütend, führt aber vor allem zu großer Angst und Verunsicherung.
Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung geht die Sprache immer mehr verloren und eventuell auch die Fähigkeit zu gehen. Das kranke Gehirn lässt kaum noch Beschäftigung oder Bewegung zu.
U.U. sitzt er im Rollstuhl. Das bedeutet, dass seine Möglichkeiten, sich auszudrücken oder auch nur bemerkbar zu machen immer geringer werden.
Es kann also sein, dass auffälliges Verhalten lediglich durch irgendein Unbehagen ausgelöst wird, z.B.
Machen Sie ihm keine Vorwürfe!
Man muss davon ausgehen, dass alles, was ein Demenzkranker tut, für ihn einen bestimmten Grund und Sinn hat. Deshalb ist es sehr hilfreich, ihm respektvoll zu begegnen, seine momentanen Gefühle, wie z.B. Angst, Wut, Ärger, Hilflosigkeit zu akzeptieren und ihn spüren zu lassen, dass man sie ernst nimmt. Auch nachweislich falsche Antworten sollte man akzeptieren, denn Gegenargumente oder Zurechtweisung bewirken eher eine Eskalation der Situation. Besser ist es, dem Erkrankten zu zeigen, dass man seine Gefühle versteht und ihn dann behutsam abzulenken (z.B. seine Lieblingsmusik auflegen, den Rollstuhl so drehen, dass er die spielenden Kinder sehen kann, Spielkarten sortieren lassen etc.)
Beispiel: Der Erkrankte sucht eine bereits verstorbene Person. Hier wäre es nicht hilfreich zu sagen, dass derjenige nicht mehr lebt. Das könnte Ungläubigkeit, Zorn auf den Betreuenden als „Lügner“ oder Verzweiflung auslösen. Besser wäre es, mit ihm über seine Gefühle dieser Person gegenüber zu sprechen, z.B. „Ja, an der Mama hängt man halt ganz besonders. Die kümmert sich um alles...“, und dann zu sagen, dass sie heute nicht mehr kommen kann, weil z.B. der Zug heute nicht fährt, das Wetter zu schlecht ist o.Ä.
Beispiel: Der Erkrankte beschuldigt Sie, seine Geldbörse oder einen anderen Gegenstand von ihm gestohlen zu haben. Machen Sie sich klar: Der Gegenstand ist ihm wichtig, und er ist entsetzt und in Panik, weil er ihn nicht finden kann. Genauso würde es Ihnen auch gehen. Da Sie die Person sind, die oft bei ihm ist, können nur Sie mit dem Verschwinden zu tun haben.
Um die Situation zu entschärfen, sollten Sie ihm zeigen, dass Sie seine Sorge um den Verlust verstehen. Gehen Sie nicht auf Defizite ein oder machen gar Vorwürfe. Machen Sie sich möglichst mit dem Erkrankten zusammen auf die Suche, weil es am besten ist, wenn er den Gegenstand selbst wiederfindet.
Beispiel: Der Erkrankte „muss zur Arbeit gehen“. Hier könnte man über die Wichtigkeit der Arbeit, über Erlebnisse bei der Arbeit sprechen und dann langsam auf ein anderes Thema überleiten. Hilfreich kann es auch sein, dem Erkrankten anzubieten, ihn ein Stück auf seinem Weg zu begleiten. Dabei findet sich meistens eine Möglichkeit, ihn von seinem ursprünglichen Vorhaben abzulenken. Man kann aber auch eine gemeinsame Aktivität anbieten, z.B. einen Spaziergang, ein Spiel, Fotos anschauen etc.
Bei Demenzkranken mit einem großen Bewegungsdrang empfiehlt es sich, für ausreichend Bewegung zu sorgen. Das können natürlich Spaziergänge sein, aber auch leichte gymnastische Übungen, Wurfspiele mit einem Luftballon, Zimmerkegeln etc. im häuslichen Bereich.
Für Angehörige sehr belastend ist der ständige Versuch, die Wohnung zu verlassen, sogenannte Weglauftendenzen. Neben Bewegungsdrang kann eine weitere Ursache dafür die Suche nach einem sicheren Zuhause oder nach bestimmten Personen sein. Im fortgeschrittenen Stadium der Demenz erkennen die Erkrankten oft die eigene Wohnung nicht mehr, möchten aber unbedingt „nach Hause“. Damit suchen sie oft die Geborgenheit und Sicherheit, die sie als Kind zu Hause empfunden haben. Dort haben sie sich nie einsam gefühlt. Diesen Zustand möchten sie wieder erleben.
Um dieser Weglauftendenz vorzubeugen, kann es sinnvoll sein, die Wohnungstür hinter einem Vorhang zu verbergen oder Straßenschuhe, Mantel, Hut und Gehwagen außerhalb des Blickfeldes aufzubewahren.
Einen Demenzkranken einzuschließen, ist eine erhebliche Einschränkung seiner persönlichenm Freiheit! Es kann zu starken Wut- oder Panikattacken führen oder auch als Bestrafung empfunden werden.
Bedenken Sie, dass es sich im rechtlichen Sinne hierbei um eine Freiheitsentziehende Maßnahme handelt!
Nicht außer Acht lassen sollte man, dass es auch körperliche Ursachen für herausfordernde
Verhaltensweisen geben kann. Infrage kommen z.B.:
Deshalb sollte unbedingt Kontakt zu den behandelnden Ärzten aufgenommen werden.
Nicht bei jedem Erkrankten und nicht in jeder Krankheitsphase lässt sich auch mit größtmöglichem Verständnis und liebevoller Zuwendung eine zufriedenstellende Lösung finden. Vor allem, wenn er unter Halluzinationen oder Wahnvorstellungen leidet, was unglaublich belastend ist, kann eine medikamentöse Unterstützung erforderlich sein. Das dient nicht nur dem Betreuenden, sondern besonders auch dem Erkrankten, der allein gar nicht mehr zur Ruhe kommen könnte.
Was können Sie tun, um ggf. die Beherrschung nicht zu verlieren?
Jeder Mensch kann in eine Situation geraten, in der er das Gefühl hat, kurz vor der Explosion zu stehen und sich nur noch schwer unter Kontrolle zu haben. So können Sie kurzfristig Abstand gewinnen:
Für pflegende Angehörige ist es wichtig, prinzipiell daran zu denken, dass auch sie ein Leben während der Pflege und ein Recht auf eigene Bedürfnisse haben, dass sie auf sich selbst achten sich Freiräume zugestehen und organisieren müssen, und auch, dass sie ihren Alltag dauerhaft entlasten, indem sie Hilfsangebote wahrnehmen → Siehe auch Ratschläge / Auszeit von der Pflege
Unsere Expertin
Annette Friedel, examinierte Krankenschwester, seit 2003 als Fachkraft in einer Tagespflege tätig, wo sie täglich mit ganz praktischen Fragen von Angehörigen zum Pflegealltag konfrontiert wird.